Blick in die Zukunft der Gewerkschaften:

Welche Rolle, Aufgabe und Berechtigung haben Gewerkschaften im Jahr 2040?

Giorgio Tuti, Präsident SEV

Im Jahr 2040 sind die Gewerkschaften erst recht gefragt. Solange es Arbeitnehmende gibt, braucht es Gewerkschaften, die deren Rechte erkämpfen und verteidigen. Trotz Digitalisierung und technischem Fortschritt: Der Mensch bleibt mit seinen Bedürfnissen ein analoges Wesen.

Grosse technologische Neuerungen gab es in der Wirtschaftsgeschichte immer wieder. Diese Neuerungen sind von Menschen gemacht und somit beeinflussbar. Handlungsspielraum gibt es folglich auch bei den gesellschaftlichen Auswirkungen. Die Gewerkschaften spielen dabei eine Schlüsselrolle, in den Betrieben, in den Branchen oder in der Politik. Das Ziel muss sein, dass die technologischen Neuerungen den Berufstätigen und der Bevölkerung letztlich nützen.

Klar ist, dass sich in den nächsten 20 Jahren die Aufgaben der Gewerkschaften durch den technischen Fortschritt verändern werden. Die Arbeitswelten sind im Wandel, die Arbeit wird ortsungebundener und digitaler. Die Gewerkschaften sind gefordert, auf die Fragen der zukünftigen Arbeitsformen Antworten zu finden und die Arbeitnehmenden weiterhin zu organisieren.

Die Gewerkschaft muss digitaler werden und auch selbst den digitalen Wandel mitmachen. Grundsätzlich bleibt der Auftrag der Gewerkschaften aber derselbe: Sie müssen sich um die Rahmenbedingungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern kümmern: Entlöhnung, gerechte Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen. Folgende Berufs- und Bevölkerungsgruppen riskieren am ehesten, von den Veränderungen durch die Digitalisierung negativ getroffen zu werden:

  • Berufstätige in Branchen mit starkem strukturellem Wandel z.B. kaufmännische Tätigkeiten, Industrie
  • Ältere Berufstätige
  • Berufstätige mit schlechter Ausbildung
  • Berufstätige in arbeitsrechtlich prekären Berufen / Anstellungen

Problematisch wird die noch zunehmende Vermischung von Arbeit und Freizeit durch Homeoffice, der ständigen Verfügbarkeit über das Geschäfts-Smartphone, Social Media usw. Diese Abgrenzung zum Wohl der Arbeitnehmenden muss geregelt werden.

Neue Arten der (Schein-)Selbständigkeit wie bei Plattformfirmen (Uber) oder der Gig-Economy üblich, fordern von den Gewerkschaften neue Lösungen. Wie stark diese Plattformarbeit zunehmen und sogar heutige Normalarbeitsverhältnisse verdrängen wird, kann heute niemand voraussagen, die Schätzungen liegen weit auseinander. Man kann wohl davon ausgehen, dass sich diese in Bereichen, die bisher schon mit Freelancern gearbeitet haben (Marketing, Design, Kommunikation) eher verbreiten werden als im Kerngeschäft des öffentlichen Verkehrs.

Durch die digitalen Mittel ist es für die Arbeitgeber/-innen einfacher geworden, das Personal zu überwachen, beziehungsweise dessen «Leistung» zu messen. Ein korrekt angewandter Datenschutz in den Betrieben wird immer wichtiger. Wenn der persönliche Austausch fehlt (durch Outsourcing, Homeoffice) kann zwischen den Angestellten, aber auch zwischen Vorgesetzen und Untergebenen keine Vertrauensbasis hergestellt werden, was dazu verleiten kann, vermehrt zu Überwachungsinstrumenten zu greifen.

Die Gewerkschaften werden vermehrt einen Bildungsauftrag wahrnehmen müssen, um den Arbeitnehmenden zu ermöglichen, sich die neu erforderten Kompetenzen anzueignen. Natürlich können die Gewerkschaften diese Aufgabe nicht alleine übernehmen, sondern werden auch bei den Unternehmungen darauf hinwirken müssen, dass diese ihren Bildungs- und Weiterbildungsauftrag ernst nehmen.

Bei den Anpassungen der Berufsbilder und Berufsfunktionen sollen die Arbeitnehmenden mitwirken können. Darauf müssen die Gewerkschaften pochen.

Das Verhältnis von Lohnarbeit zu Kapital spielt für die Gewerkschaften eine zentrale Rolle – in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft.

Gerade im Service public-Bereich ist klar, dass die Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Mobilität nicht nur durch Maschinen erbracht werden können, sondern auch noch in 20 Jahren von Mensch zu Mensch. Einzelne Berufsgruppen werden aber verschwinden, andere sich radikal verändern.

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Schweizerischer Gewerkschaftsbund SGB

Sozialer Fortschritt – dank Gewerkschaften und guten Gesamtarbeitsverträgen

In der Schweiz wie in anderen reichen Ländern ist die Zusammenarbeit zwischen Menschen und die Arbeitsteilung so hoch wie noch nie. Im Berufsleben arbeiten wir im Team mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Berufen. Wir bringen unsere Kinder in die Schule und in die Kita. Ältere Menschen erhalten Unterstützung von der Spitex etc.

Das zeigt: Ein hoher wirtschaftlicher Wohlstand wird nur in Zusammenarbeit von vielen Menschen und einer entsprechenden Arbeitsteilung erreicht. Wichtige Voraussetzungen dafür sind auch ein leistungsfähiges Sozialversicherungssystem, ein guter Service Public sowie Gesamtarbeitsverträge und starke Gewerkschaften.

Länder mit bedeutenden Gewerkschaften und guten Gesamtarbeitsverträgen haben deutlich weniger soziale Probleme. Und mehr Freiheiten und Entfaltungsmöglichkeiten für die Menschen. Weil die Berufstätigen besser vor Arbeitgeberwillkür geschützt sind. Und weil sie bessere Löhne und Arbeitszeiten, mehr Mitspracherechte sowie grössere Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten haben.

Paradebeispiel sind die nordischen Länder mit tiefen Armutsquoten, einer geringeren Ungleichverteilung der Einkommen und weniger Geschlechterdiskriminierung. Auf der anderen Seite stehen beispielsweise die USA. Hier wurden die Gewerkschaften ab Ende der 1970er Jahre auch mithilfe der neoliberalen Regierung Reagan bekämpft, so dass das Land nun trotz hohen gesamtwirtschaftlichen Reichtums enorme soziale Probleme hat. Rund 14 Prozent der US-AmerikanerInnen benötigen heute finanzielle Unterstützung beim Kauf von Lebensmitteln.

Die grosse Bedeutung der Gewerkschaften und der Gesamtarbeitsverträge für eine soziale wirtschaftliche Entwicklung wurde in den letzten Jahren vermehrt auch in der ökonomischen Forschung belegt. In Branchen und Firmen mit starken Gewerkschaften und guten Gesamtarbeitsverträgen gibt es eine geringere Lohnschere, aber auch bessere berufliche Möglichkeiten. Sie erhöhen die Verhandlungsmacht der Arbeitenden gegenüber den Kapitalgebern und verhindern so, dass die Unternehmen Gewinne auf Kosten der Löhne machen. Mittlerweile sprechen sich auch der IWF und die OECD – zwei traditionellerweise gewerkschaftsskeptische Organisationen – für mehr GAV und eine bessere gewerkschaftliche Organisation aus.

Schlüsselrolle der Gewerkschaften – auch in der Schweiz

Wir Gewerkschaften gehören zu den bedeutendsten kollektiven Organisationen. Unsere Vorgängerinnen und Vorgänger haben in harten Auseinandersetzungen für gute Arbeitsbedingungen, GAV, soziale Absicherung und Mitbestimmung an der Arbeit und in der Politik gekämpft. Teilweise sogar unter Lebensgefahr. Der Landesstreik im November 1918 war dabei ein herausragendes historisches Ereignis. Die erreichten sozialen Fortschritte sind bemerkenswert.

Die Vollzeit-Arbeitszeiten sind von über 60 auf heute etwas mehr als 40 Stunden gesunken. Die Reallöhne sind substanziell gestiegen. Die heutigen Berufstätigen sind gegen Einkommensausfälle bei Unfall, Invalidität und Arbeitslosigkeit versichert. Es gibt eine Altersvorsorge, die insbesondere im Fall der AHV eine stark ausgleichende Wirkung hat. Und es gibt mittlerweile fast 600 Gesamtarbeitsverträge mit mehr als 2 Millionen unterstellten Beschäftigten.

Die Gewerkschaften mussten sich im Laufe der Zeit anpassen. Heute ist es selbstverständlich, dass wir uns unabhängig von der Farbe des Passes für bessere Arbeitnehmerrechte einsetzen. Wir Gewerkschaften sind sogar die einzige grosse Organisation, in denen alle, egal ob mit oder ohne Schweizer Pass, mitbestimmen können. Deshalb bilden wir auch die Realität der Schweizer Berufswelt ab, wo heute ein Drittel der Arbeitsstunden von Berufstätigen mit ausländischer Staatsangehörigkeit erbracht wird. Und wir sind ein entscheidendes politisches Gegengewicht zu den gefährlichen nationalistischen Ideologien, welche die Staatsangehörigkeit über die realen Probleme der Berufstätigen stellen und dadurch verhindern wollen, dass die Arbeitnehmerrechte und die soziale Situation der Berufstätigen verbessert werden.

Um als Gewerkschaften repräsentativ zu sein, braucht es eine Offenheit der Verbände, Menschen mit unterschiedlichen Weltanschauungen und Lebensformen zu organisieren. Im Gewerkschaftsalltag zeigt sich, dass das für die Mitglieder sogar eine Bereicherung ist. Die Gewerkschaften führen einen Kampf für bessere Rechte und bessere soziale Bedingungen.

Das heisst aber nicht, dass die emotionale Bindung an die Gewerkschaftsarbeit und an die Gewerkschaften nicht von sehr grosser Bedeutung sei. Im Gegenteil: Das Zugehörigkeitsgefühl ist ein wesentliches Merkmal einer Organisation und stärkt die Solidarität und den Zusammenhalt unter den Mitgliedern. Die Gewerkschaften haben viel Erfahrung damit. Bereits die Tatsache, dass man im gleichen Beruf arbeitet, ist eine wichtige Basis. Die Frage der gewerkschaftlichen Bindung, aber auch der organisatorischen Profile muss weiterentwickelt werden. Eine starke, gemeinsame Stimme der Berufstätigen in der Schweiz ist von zentraler Bedeutung. Das funktioniert in der Breite aber nur, wenn sich die Mitglieder in ihrer Individualität und in ihrer Lebensweise nicht eingeschränkt fühlen.

In der Schweiz sind knapp 750‘000 Personen gewerkschaftlich organisiert. Das entspricht einem Organisationsgrad von 16 Prozent. Gut vertreten sind die Gewerkschaften im Bauhauptgewerbe oder in Teilen des Service Public – wobei auch dort der Mitgliederanteil teilweise gesunken ist. Der Frauenanteil ist auf 29.7 Prozent gestiegen. Doch angesichts der Tatsache, dass die Frauen mittlerweile fast die Hälfte der Erwerbstätigen ausmachen, ist der Handlungsbedarf weiterhin gross. Eine permanente Herausforderung ist der berufsstrukturelle Wandel. Er verlangt von den Gewerkschaften entsprechende Aufbauprojekte in neuen Branchen und Berufen.

Mehr Mitglieder, mehr Gesamtarbeitsverträge

Die heutige Generation der Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter stellt die Weichen für die Zukunft der Organisation. Entscheidend ist, dass bei der Mitgliederentwicklung eine Wende stattfindet. Die Präsenz vor Ort ist und bleibt dabei der Erfolgsfaktor.

Bei den GAV gibt es von der Logistik bis zum Detailhandel eine Reihe von wesentlichen Branchen, die künftig unterstellt werden müssen. Ziel ist es, dass alle Arbeitnehmenden in den Genuss eines GAVs kommen. Die Gesetze für die Allgemeinverbindlich-Erklärung stammen aus den 1950er-Jahren und müssen an die heutige Realität angepasst werden. Vor allem die so genannten Quoren müssen sinken.

Ebenso wichtig sind inhaltliche Verbesserungen, bei den Mindestlöhnen und den Arbeitszeiten aber auch im Bereich der Gleichstellung, der Aus- und Weiterbildung und dem Gesundheitsschutz.

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